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Begegnung statt Belehrung: Warum Bildung zwischenmenschliche Interaktion braucht und was Psychodrama damit zu tun hat

„Was ist Psycho…drama??“; „Was machst du eigentlich beruflich?“… Diese Fragen hat mich zuletzt mein Steuerberater mittendrin bei der Steuererklärung gestellt. Das hat mich überfordert. Seitdem ich selbständig bin, begegnen mir diese und ähnliche Fragen in Gesprächen mit Bekannten, die sich meine Webseite angesehen haben, immer wieder. Und jedes Mal versuche ich, fast verlegen, die Antwort in wenigen Worten zu fassen (schließlich müsste ich nach den vielen Marketing-Workshops den berühmten „Elevator Pitch“ langsam beherrschen!). Während ich nach drei Anläufen und einer Präambel mich bemühe, eine klare Antwort auf die Frage zu formulieren, schießen mir abwechselnd diese Gedanken durch den Kopf: „Du musst deine Homepage (schon wieder!) überarbeiten“; „als Kommunikationsexpertin müsstest du dich doch besser ausdrücken können“; „Mist! Es klingt so unbedarft, wie sollen dir die Menschen Professionalität zutrauen??!!!“… Meistens gehe ich sehr frustriert aus diesen Gesprächen und wünsche mir, etwas Eindeutiges sagen zu können, wie z.B. „Ich bin Rechtsanwältin. Vertrete Menschen vor Gericht. Punkt.“. Das wäre einfacher und würde mir gleichzeitig mehr Status verleihen. Doch den Beruf verfehlt!  

 

Bin ich tatsächlich so verwirrt über das, was ich mache? Weiterbildung. Ich biete berufliche Weiterbildung. Workshops, Seminare, Lehrgänge, Methodenschulungen. Soweit, so gut. Sollte ich mich lieber auf nur einen Bereich konzentrieren, entweder Sprach- oder Kommunikationstrainings, oder Organisationsentwicklung? Ist mein Angebot Kraut und Rüben?

Eigentlich nicht. Für mich ist es ganz klar, wie die psychodramatische Haltung alle meine Wirkungsbereiche trägt und verbindet. Meine Freiberuflichkeit ist wie ein Kreis, der sich nach vielen Jahren der Weiterbildung und Erfahrung schließt und alles beinhaltet, wozu ich stehe und was ich weitergeben möchte. Schwer in Worte zu fassen? Um es mit Morenos Worten zu sagen: „Handeln ist heilender als Reden“.

 

Gestern fiel mir das Buch von Ferdinand Buer Psychodrama und Gesellschaft  in die Hand und ich schlug es zufällig beim Kapitel Psychodramatische Bildungsarbeit auf. Ich las die Zeilen wieder, die ich schon vor drei Jahren unterstrichen und teilweise als Zitat in meiner Abschlussarbeit der Psychodrama Oberstufe übernommen hatte. Nach dem Lesen hatte ich so ein „Ja, genau!“-Gefühl, der mich einerseits den Druck nahm, meine Webseite zu löschen und komplett neu aufzusetzen und andererseits den Impuls gab, diesen Blogartikel zu schreiben. Das Kapitel wird von diesen Worten eingeleitet: „Moreno war ein Genie. Und als solches hatte er die Unverschämtheit, aber auch den Mut, sich nirgends einsortieren zu lassen“ (Buer, 2010, S. 243). Ich bin weit davon entfernt, mich mit Moreno zu vergleichen oder mir gar Geniequalitäten zuzuschreiben. Dennoch finde ich es einleuchtend, dass Jakob Levi Moreno in so vielen unterschiedlichen Bereichen aktiv war: Er war Hauslehrer, Kinderarzt, Psychiater, Literat, Randgruppenarbeiter, Theaterdirektor und noch mehr. Und das nicht unbedingt nacheinander, sondern auch gleichzeitig. Und doch war er in all diesen Rollen Psychodramatiker. Also doch ein bisschen wie ich, nur mit mehr Genialität, und besser.

Weiter auf der Seite schreibt Buer: „Immer, wenn er in andere Lebenskreise eintrat, konnte er nicht anders, als alles zu psychodramatisieren“. Das führt uns zu einem wichtigen Punkt: Das Psychodrama als Methode zu bezeichnen wird erstens dem Wirken von Moreno und anderen Psychodramatiker:innen nicht gerecht und zwingt uns zweitens zu einer Einordnung in eine Handlungsform:  Psychotherapie, psychosoziale Beratung, Coaching, Unterricht. Und das sorgt für Verwirrung, wie wenn ich in der Apotheke die Anwendungsgebiete eines Medikaments erfrage und die Antwort bekomme, es sei ein Medikament gegen Kopfschmerzen, Durchfall, Gliederschmerzen und Hautausschlag. In der Tat sah Moreno das Psychodrama als eine Art Allheilmittel für die Einzelnen und für die Gesellschaft und sah dabei Pädagogik, Therapie, Religion und Politik als ein Gesamtzusammenhang. Moreno ging es „ums Ganze“. Er entwickelte und erprobte nicht nur ein Verfahren, sondern eine Philosophie, die nichts weniger zum Ziel hatte, als die Welt besser zu machen. Dabei liegt der Fokus nicht auf einer Methodik oder einzelnen Settings und Arrangements, sondern vielmehr auf dem zugrundeliegenden Menschenbild und der psychodramatischen Haltung. Das, was uns Moreno hinterlassen hat, ist mit den Worten von Ferdinand Buer, „ein Ensamble an Instrumenten, die wir je neu nutzen können um der Welt aufzuspielen und kreative Prozesse auszulösen“.

 

Was hat Psychodrama mit (Weiter)bildung zu tun?

Mit der Prämisse, dass ich mir die psychodramatische Haltung in allen Bereichen meines privaten und beruflichen Lebens zu eigen gemacht habe, geht es mir heute darum aufzuzeigen, warum die Prinzipien und die Arbeitsweise des Psychodramas im Einklang sind mit einer (dringend notwendigen) zeitgemäßen Bildungsarbeit. Nicht, dass der Gedanke von selbstgesteuertem, interaktivem Lernen in einer Gruppe neu wäre. Es ist eine schon längst anerkannte Erkenntnis der Neurowissenschaften, dass Lernen am besten durch Erfahrung und Einbeziehung der Emotionen gelingt. Die vielzitierte (und oft fehlinterpretierte) Lernpyramide von E. Dale entbehrt zwar jeglicher wissenschaftlichen Grundlage und wurde von ihrem Autor so nie dargestellt. Jedoch ist der Grundaussage, dass wir das meiste behalten, also lernen, was wir selbst tun, nichts auszusetzen. Wir finden das Handeln aus Morenos Werk wieder. Lernen durch Aktion. Und das Potential der Gruppe. Trotzdem hält sich in Bildungsinstitutionen noch hartnäckig die inhaltszentrierte Pädagogik, die vorwiegend auf Wissensvermittlung und Messung der individuellen Leistung nach festgelegten Standards basiert. Diese Bildung in klassisch-veraltetem Sinne lässt sich schwer mit dem psychodramatischen Verfahren vereinbaren, das spontan-kreative Spielräume eröffnet, in denen die Einzelnen zu Gestalter ihrer Lernprozesse werden und im besten Fall aus bekannten Mustern ausbricht und Neues hervorbringt. Lernen mit offenem Ende passt nicht zu der Standardisierung und Messung, die unser Bildungssystem noch fordert. Daher treffen alternative, auf Co-Kreation basierende Lernformen in Bildungsinstitutionen oft auf Unverständnis und Widerstand. Und wenn es ums Lernen geht, denken viele Menschen noch an Beschulung: Büffeln von Fakten und Formeln, Auswendiglernen von Texten und das Absolvieren von Tests. Schließlich wurden wir in der Schule sozialisiert und damit assoziieren wir die Idee von Lernen, auch als Erwachsene. Nicht selten begegne ich auch in der Erwachsenenbildung Menschen, die lieber in einer passiven Haltung als Bildungskonsumenten verharren, als sich für die Themen und den Austausch mit der Gruppe zu öffnen. Lieber eine begrenzte Liste von „prüfungsrelevanten“ Inhalten auswendig gelernt, als sich auf ein Terrain zu begeben, auf dem die Ergebnisse und Erkenntnisse nicht von Anfang an bekannt sind. 

In Zeiten von Digitalisierung und KI liegt Wissen jeglicher Art einen Klick entfernt. Zu jedem erdenklichen Thema können wir in Sekundenschnelle recherchieren und unsere Ergebnisse in beliebige Textarten zusammenstellen lassen. Was hat vor diesem Hintergrund noch eine Lehrperson zu suchen, die Inhalte aus einem Buch oder einer Präsentation in eigenen Worten wiedergibt und anschließend abfragt? Das kann ChatGPT auch, wenn nicht besser zumindest schneller. Warum soll die wertvolle Unterrichtszeit damit verschwendet werden, statt das Potential menschlicher Begegnung und Interaktion auszuschöpfen? Menschen sollen in ihren Lernprozessen vielmehr begleitet werden. Sie sollen lernen sich in der Komplexität zu bewegen, Ambiguitäten auszuhalten, in der Fülle der Eindrücke diejenigen auszufiltern, die im Moment relevant sind. Der eigentliche Lernprozess findet im Hier und Jetzt statt, in der Art wie wir mit den Themen, mit uns selbst und den anderen in Beziehung treten und den Erkenntnissen, die wir daraus gewinnen. Die Frage, die sich an Lehrpersonen stellt, ist nicht „Was?“, sondern „Wie (gehen wir damit um)?“. Lehrende sind nicht mehr die allwissenden Wissensvermittler, die alle Antworten haben. Sie sind diejenigen, die die richtigen Fragen in den Raum stellen. 

 

Leider vernachlässigen viele Schulen und Bildungseinrichtungen diesen wichtigen Bildungsauftrag zugunsten einer reinen Unterrichtsgestaltung. Dabei ist es gerade die zwischenmenschliche Interaktion, die das Lernen erst wirklich effektiv macht. Denn nur durch Begegnungen mit anderen Menschen können wir uns weiterentwickeln und lernen, uns in der Gesellschaft zurechtzufinden. Eine Schule oder Universität sollte deshalb nicht nur als Ort des Wissenserwerbs verstanden werden, sondern auch als Raum für persönliches Wachstum und soziale Interaktion. Dieser Diskurs hatte Hochkonjunktur während der Pandemie. Homeschooling wurde teilweise als der Ursprung allen Übels identifiziert, da Schüler:innen die Möglichkeit der sozialen Interaktion und des Kontakts mit den Gleichaltrigen genommen wurde. Stimmt. Was auch stimmt ist, dass auch im schulischen Kontext der Kontakt und der Austausch eher in der unterrichtsfreien Zeit stattfinden, während im Klassenzimmer alles auf Einzelleistung und Messung derselben gesetzt wird und die Anliegen der einzelnen Schüler:innen wenig Platz in der Klassengemeinschaft haben, und wenn, strikt getrennt von der „Lernzeit“. Auf der anderen Seite stimmt es auch, dass Online-Unterricht so gestaltet werden kann, dass Interaktion und Kooperation gelingen und Gruppenarbeit auch ohne physische Nähe möglich wird. Folglich war es in Wahrheit so, dass schlechter Präsenzunterricht zum schlechten Distanzunterricht wurde und wiederum die Konzepte, die im Präsenzunterricht Wert auf Austausch und Interaktion legten für den Distanzunterricht angepasst und zu gutem Homeschooling wurden. Das Problem besteht also unabhängig vom Unterrichtsmedium. Die Bildungsarbeit hat eine Verantwortung für die Weltentwicklung, ist aber in vielen Kontexten von dieser Entwicklung schon längst abgehängt worden. 

 

Moreno hatte eine religiöse Überzeugung seiner Verantwortung in der menschlichen Gemeinschaft und seine Vision war nicht weniger als eine kreative „Neuordnung der Gesellschaft“, eine Gesellschaft, die von Menschen nach ihren Vorstellungen gemeinsam gestaltet wird und in der „der Mensch dem Menschen ein Helfer ist“ (Buer, 2010, S. 247). Wenn wir Bildung aus dieser Perspektive betrachten, wird es zu ihrer zentralen Aufgabe, dass Menschen ihre sozialen Fähigkeiten verbessern und ihre Beziehungen zu anderen stärken können. Dass sie sich intensiver mit ihren eigenen Emotionen auseinandersetzen und neue Verhaltensweisen erlernen. Dass sie das selbständige Denken nicht verlernen und der KI überlassen, sondern dass sie die neuen technologischen Möglichkeiten steuernd für sich nutzen, statt sich ausnutzen zu lassen. So gesehen ist die Entfernung zwischen Therapie und Unterricht nicht mehr so groß und die Grenzen fließend. Bildung im Sinne einer ganzheitlichen Entwicklung des Menschen in der Gesellschaft. 

 

Die psychodramatische Haltung im pädagogischen Kontext

Das Psychodrama ist bekannt als ein großes Repertoire an Methoden und Techniken, die in allen Formaten der Beziehungsarbeit eingesetzt werden können, verbunden mit eigenen Idealen von Begegnung und schöpferischer Spontaneität. Leider wird das Augenmerk mehr auf die Nutzung von Methoden und Techniken gelegt und dabei das wirklich wertvolle an Psychodrama (eben die besagten Ideale und Prinzipien) vernachlässigt. Das wirklich Revolutionäre in Morenos Gedanken ist die Idee, dass jeder Mensch auf seine Wünsche, Ideale, Ansprüche, Ängste sowie auf die Anforderungen seiner Umwelt hören und in der konkreten Auseinandersetzung seine einmalige Antwort geben soll (Buer, 2010, S. 248). Psychodramatische Haltung bedeutet, dass wir uns auf gleicher Augenhöhe begegnen und uns gegenseitig als gleichwertige Partner betrachten. Diese Haltung kann dazu beitragen, dass wir in Bildungssituationen nicht nur voneinander lernen, sondern auch miteinander wachsen können. Wir können unsere eigenen Erfahrungen teilen und von den Erfahrungen anderer profitieren. Dabei steht nicht die Belehrung im Vordergrund, sondern die Begegnung. Das führt dazu, dass sich ein Klima des Vertrauens und der Offenheit entwickelt – eine psychologische Sicherheit, die es uns erst erlaubt aus unserer Komfortzone zu treten und uns aktiv einzubringen. Dazu bedarf es seitens der Lehrenden den jeweils passenden Methoden, aber vor allem der Achtsamkeit für den Moment und einer kreativen Kraft, die neue Wege öffnet. Nicht zuletzt brauchen wir den Mut, nicht alle Fragen beantworten zu können und die Bescheidenheit, selbst auch dazu zu lernen. Buer beschreibt drei Prinzipien, die die psychodramatische Haltung kennzeichnen: Imagination, Aktion und Kooperation. Immer, wenn der kreative Umgang mit Themen und Situationen und die Bereitschaft, sich selbstbestimmt und zugleich kooperativ zu handeln gefördert werden, findet ein Lernprozess im psychodramatischen Sinne statt. Eine psychodramatische Haltung bedeutet nicht nur bessere Ergebnisse im Unterricht, sondern auch eine bessere Vorbereitung auf das Leben außerhalb des Lernkontexts.

 

Was ist das Fazit, oder: Werde ich besser erklären können, was ich „eigentlich mache“?

Kommen wir auf die Ausgangssituation zurück: Werde ich das nächste Mal, wenn mein Steuerberater wieder fragt, was ich eigentlich mache, eine bessere Antwort geben können? Ich weiß nicht. Vielleicht möchte ich wieder zu viel in zu wenig Zeit sagen. Vielleicht will er sich auch nicht alles anhören und wollte nur ein bisschen Small Talk... Die Botschaft ist aber klar: Ich möchte mit meinen Weiterbildungen Menschen zu einer Begegnung einladen. Einer Begegnung mit Themen, Wissen und Fähigkeiten und immer auch mit sich selbst, den anderen und dem Leben. Damit sie ihre eigenen Lernwege gestalten. Ich frage mich, ob mein Steuerberater mit dieser Antwort zufrieden wäre...

 

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