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Das Missverständnis am Wort Integration

"ich werde trotzdem afrikanisch sein, auch wenn ihr mich gerne
deutsch haben wollt 
und werde trotzdem deutsch sein
auch wenn euch meine schwärze
nicht passt"
May Ayim
Die Sprache, die wir sprechen spiegelt die Welt, in der wir leben. Mit dem viel zitierten Beispiel der Eskimosprachen, die im Vergleich mit anderen Sprachen besonders viele Wörter für die Bezeichnung von "Schnee" haben, wollte der Ethnologe und Sprachwissenschaftler Franz Boas zeigen, wie verschiedene Völker ihre Erfahrung der Welt über die Sprache klassifizieren. Wiederum ist auch das Gegenteil wahr: Die Saphir-Whorf Hyptohese ist eine Annahme aus der Sprachwissenschaft, der zufolge die Sprache das Denken und die Welterfahrung beeinflusst. Die verwobene Entwicklung von Sprache und Kultur ist ein spannendes und faszinierendes Thema aus der Perspektive der Sprachwissenschaft. Während ich heute ein TED Talk mit dem Titel "How language shapes the way we think" anschaute, beschäftigte mich dieser Gedanke in Bezug auf das Wort Integration. Das, was ich schon lange als ein grundsätzliches Missverständnis im Diskurs über Diversität in der Gesellschaft und insbesondere in der Arbeitswelt wahrnehme, fand eine einleuchtende Erklärung in der Bedeutung und Verständnis des Wortes Integration in der deutschen Sprache. Im Duden finden sich für das Verb "integrieren" folgende Definitionen: 1. In ein größeres Ganzes eingliedern, einbeziehen, einfügen. 2. zu einem übergeordnetem Ganzen zusammenschließen. Der Ursprung des Wortes wird auf das lateinische integrare zurückgeführt, das wiederum mit wiederherstellen, erneuern erklärt wird. Die Definition suggeriert die Existenz einer vorbestimmten "Ordnung", die größer und übergeordnet ist und fremde Elemente, einfügt und anpasst, um dieses größere Ganze wiederherzustellen, ja zu "reparieren". Interessanterweise findet sich diese Bedeutungsnuance zum Beispiel in der Definition des italienischen Wortes integrare nicht. Hier lautet eine Wörterbuchdefinition sinngemäß "ergänzen durch hinzufügen komplementärer Elemente". Ich habe nicht weiter recherchiert, wie sich das in anderen Sprachen verhält, aber dieser Unterschied zwischen den Definitionen in den zwei Sprachen, die ich als meine bezeichne, beeindruckt mich sehr und wirft Fragen in Bezug auf die Idee und die darauffolgende Umsetzung von "Integration" in der Politik und in der Gesellschaft auf.
Dieses durch die deutsche Sprache transportierte Konzept von Integration setzt die Perspektive der stärkeren Seite der vermeintlich Gleichen voraus. Dies bedeutet, vereinfacht, eine Mehrheit weißer, heterosexueller Menschen ohne psychischer oder körperlicher Behinderung oder sonstige Eigenschaften, die in unserer westlichen Gesellschaft als "divers" gelten.  Aus dieser Perspektive heraus wird Diversität als eine Abweichung von der Regel wahrgenommen, die zwar toleriert werden und numerisch repräsentiert sein sollte, jedoch mit dem Ziel das "Fremde" und "Andere" in das was wir als Norm empfinden zu assimilieren. Je auffälliger die Differenz, desto größer ist der Schritt, um diese unserer Norm anzugleichen. Denken wir an den Unterschied, wie ukrainische Flüchtende in Deutschland und anderswo in Europa aufgenommen werden im Vergleich mit den Flüchtenden aus anderen Kriegsgebieten in den vergangenen Jahren, deren Unterschiedlichkeit sowohl äußerlich als auch kulturell auffälliger war. Wir sind viel offener gegenüber weißen Menschen, die sich ähnlich verhalten und Ähnliches essen wie wir, obwohl ihre Not die gleiche ist wie die der Menschen aus Syrien oder Nordafrika, die an die europäischen Küsten landen.  Die Sicht auf Diversität als etwas, dass es anzupassen gilt, impliziert eine Ungleichheit zwischen der Seite, die integriert und die andere, die integriert wird. Entsprechend werden Erwartungen erweckt: Von den "Integrierten" werden Dankbarkeit, Lernbereitschaft, Offenheit gegenüber der gastgebenden Kultur erwartet. Von den Integrierenden werden Gerechtigkeit, Übernahme von Verantwortung, Ermöglichung erwartet. Was dabei völlig außer Acht bleibt, ist der positive Zugang zur Diversität, das Erkennen der Schönheit und der Stärken der Vielfalt. Übersetzt heißt dies zum Beispiel in der Arbeitswelt, dass "Diversity" zwar propagiert und zahlenmäßig praktiziert wird, ja auch in Gesetzen verankert ist, die eine gewisse Anzahl an "diversen" Mitarbeitern für ein Unternehmen festlegen (was sowieso durch finanziellen Ausgleich umgangen werden kann). Vielfalt wird aber oft nicht gelebt und dessen Potential nicht ausgeschöpft. In Wirklichkeit haben unterrepräsentierte Gruppen häufig nicht die gleichen Chancen auf gute Positionen, Karriere oder den Zugang zur Talentförderung und erleben ihr Anders-Sein als Benachteiligung. Während einerseits Authentizität als positive Qualität in Führungspositionen gesehen wird, ist die Erwartung an die Unterrepräsentierten Anpassung. Sich-selbst-Sein gilt nur solange als wünschenswert, wie diese Authentizität gewissen Vorstellungen entspricht. In ihrem Buch Die Schönheit der Differenz schreibt Hadija Haruna-Oelker: "Ich erinnere mich an unzählige Erlebnisse, die davon berichten, wie es ist, wenn dich deine Differenz in einer Welt der vermeintlich Gleiche zu einer "Anderen" macht".  In ihrem TED-Talk von April 2021 mit dem Titel "Why corporate diversity programs fail" sieht Joan C. Williams einen der Gründe für das Scheitern von gelebter Vielfalt im Unternehmen in den unterschwelligen Vorurteilen, die in Organisationen existieren und weitergegeben werden. Und fügt sinngemäß hinzu, dass es nicht schwarze Menschen oder Frauen sind, die in Unternehmen "repariert" werden sollen, sondern die Wirtschaftssysteme selbst.
Das, worum es geht, in Organisationen wie in der ganzen Gesellschaft, ist zu lernen mit Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Geschichten und Perspektiven umzugehen. Es geht um eine interkulturelle Kompetenz, die sich über Haltungen und positive Gefühle, auch über eine positive Sprache, ausdrückt. Um auf die Sprache zurückzukommen, die Anfangsthema dieses Artikels war, möchte ich dem Begriff Integration das positivere Konzept Inklusion gegenüberstellen. Dazu habe ich zwei Wörterbuchdefinitionen gefunden, die ich gleichermaßen passend finde, um eine positivere Haltung gegenüber Vielfalt auszudrücken: In der Mineralogie lautet die Definition Einschluss von Fremdsubstanzen in Kristallen. Ich finde es ein schönes Bild, mir die Einzigartigkeit eines jeden Menschen in einer Gruppe als eingefasst in den Facetten eines Kristalls vorzustellen. Die zweite Definition ist: Das Mit-einbezogen-Sein; gleichberechtigte Teilhabe an etwas; Gegensatz: Exklusion. Auch hier findet die Idee Ausdruck, Teil eines Ganzen zu sein, im Miteinander und auf Augenhöhe. Inklusion heißt, Differenzen nicht nur wahr- sondern auch anzunehmen und zu begrüßen. Diese als Bereicherung statt als Herausforderung zu sehen mag ein Schritt in die richtige Richtung sein und ist die Voraussetzung dafür, das Zusammensein (neu) zu gestalten. Es ist da, wo wir mit bekannten Mustern und Strukturen brechen, dass sich neue Möglichkeitsräume eröffnen. Innovation und Entwicklung finden nicht dort statt, wo alle die gleichen Vorstellungen haben, sondern wenn wir uns in der Andersartigkeit begegnen und zuhören, neue Perspektiven annehmen und Neues ausprobieren. Wenn wir dann überlegen, dass wir im Durchschnitt ca. 1/3 unserer Zeit auf dem Arbeitsplatz verbringen wird es klar, welche Auswirkungen eine echt gelebte Vielfalt in Organisationen für Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft haben könnte. 
Abschließend fällt mir das Kommentar eines Teilnehmers eines Online-Seminars ein, das ich letzten Samstag gehalten habe. Es war die Einführung zu einer Informationsveranstaltung für Neuzuwanderer über Ausbildung und Beruf in Deutschland, organisiert von dem Amt für Migration und Integration des Landratsamts Heilbronn. Die Teilnehmenden wurden von mir eingeladen, aus einer Reihe von Bildern mit Türen sich die eine auszusuchen, die für sie am besten ihren Neuanfang in Deutschland darstellt. Abdul, ein syrischer junger Mann, wählte eine Gittertür, die halb offen stand und kommentierte seine Wahl so: "Ich bin so dankbar, dass die Türen in Deutschland für mich auf sind. In Syrien war ich ein Gefangener, hier steht meine Tür auf".  Inklusion bedeutet für mich aufmachen, Differenzen annehmen und umarmen. Das ist die Haltung, die uns zu einer bereichernden und authentischen Gestaltung von Vielfalt führt und ermöglicht, ihre Schönheit zu erleben und aus ihrem Potential zu schöpfen.
Im Tagesworkshop "Vielfalt in Organisationen leben" setzen wir uns mit Aktionsmethoden mit dem Thema "Diversity" auseinander. Als Inhouse- oder Online-Seminar buchbar. Fragen Sie mich an! 
QUELLEN:
Haruna-Oelker, H. (2022), Die Schönheit der Differenz. Miteinander anders denken, btb Verlag, München
LINKS:
Definition von integrieren: 
Definition von Inklusion:
Eskimo-Wörter für Schnee: 
How language shapes the way we think:
Saphir-Whorf-Hypothese:

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