· 

Vom Studenten, der sich in der Fremdsprache entdeckte...

Kreativität und Individualität im Sprachunterricht, auch an der Hochschule

 

Bieten wir ihnen an, das Sein zu erleben, statt das Haben zu konjugieren

 Bernard Dufeu

 

„Ich hasse Pistazien, die sich nicht öffnen lassen“… Ich lese diesen Satz in der Prüfungsarbeit eines meiner Deutsch I Studenten an der Hochschule und muss, wie so oft bei der Korrektur ihrer Lernportfolios, schmunzeln. Es berührt mich zu sehen, wie viel von sich und ihren Geschichten die Studierenden in ihre Arbeiten einbringen und zeigen. Nach 28 korrigierten Arbeiten habe ich das Gefühl, einen Einblick in die Geschichten von 28 Menschen bekommen zu haben. Alle unterschiedlich, alle besonders, vereint durch den Wunsch in Deutschland zu studieren und, für eine kurze Zeit oder für immer, hier zu leben und ihre Zukunft zu gestalten.

 

Als ich durch die Bereichsleitung gefragt wurde, welche Form der Prüfung ich für meine Kurse wählen möchte, musste ich nicht lange überlegen: Ein Lernportfolio, 30 Seiten als pdf oder 60 Folien in Power Point, wo die Studierenden ihre Reise in die deutsche Sprache und Kultur dokumentieren und zeigen dürfen. Kreativ, multimedial, bunt und mit Bildern. Klar! Das war die Prüfungsform, die zu meiner Vorstellung von Sprachenlernen passt und den Studierenden sicherlich mehr Spaß macht, als für einen Sprachtest zu lernen.

 

Ich habe den Studierenden in der Gestaltung ihrer Arbeiten die größtmögliche Freiheit gelassen. Abgesehen von einigen formellen Anforderungen (z.B. Anzahl der Texte und jeweilige Wörterzahl und Erkennbarkeit der im Unterricht behandelten Themen), waren sie frei in der Wahl der Darstellungsform und der Inhalte. Vom Frage-Antwort Spiel bis zum Gedicht, vom Telefonat mit der Immobilienagentur zum Bild des ersten Zahnarztbesuchs in Deutschland, war in den Lernportfolios alles geboten. Die meisten Prüfungsarbeiten waren äußerst interessante und unterhaltsame Lektüren. Ich bin mir sicher, dass ich zwei Wochen Korrekturarbeiten nicht mit so viel Freude und guten Gefühlen überstanden hätte, wenn ich mich für eine andere Prüfungsform entschieden hätte. Ich erinnere mich an die letzte Dozentenbesprechung und die müden Gesichter einiger Kollegen, die in den Prüfungskorrekturen steckten und diese als sehr mühsam und langweilig empfanden, während ich noch über das Bild eines gezogenen Weisheitszahns auf Seite 18 eines Lernportfolios innerlich lächelte.

 

In einem Artikel über das Lernportfolio als Leistungsnachweis im Chinesischunterricht, plädiert Gebhard (2020) für diese Prüfungsform, die „Aspekte der Individualisierung und Reflexion (…) optimal zur Geltung bringt“ und geht darauf ein, wie „die gestalterische Freiheit Raum schafft, mit relativ wenig Druck (…) die eigenen Kompetenzen abzubilden“ und so motivierend wirkt. Diese Überlegungen lenken etwas vorsichtig und sachlich den Blick auf  ein weites Feld, das sich auf das riesige Potential der schöpferischen Spontaneität öffnet.

Wieder einmal wird klar, wie Kreativität und Emotionen als Motivatoren fungieren und Potentiale zum Ausdruck bringen, die sonst in traditionellen Unterrichts- und Bewertungsformen verborgen bleiben in dem utopischen Versuch, alles in vorgegebenen Standards zu pressen, die sich einfach und mit mathematischer Sicherheit beurteilen und vergleichen lassen. Traditionell fördert die institutionalisierte Bildung in Schulen und Hochschulen weder Individualität noch Kooperation: Individualität lässt sich schwer in ein Kriterium für die Erreichung des Klassenziels packen, mit den Banknachbarn zu sprechen wird in der Regel sanktioniert und auf die Arbeit eines Mitschülers/einer Mitschülerin zu schauen ist Abschreiben und daher verboten.

 

Es sind aber die Freiräume und der Austausch mit anderen, die Spontaneität fördern und den Weg für Kreativität frei machen. Diese Idee des schöpferisch-kreativen Handelns ist von J.L. Moreno entliehen und ist die Grundlage seiner Aktionsmethoden Psychodrama und Soziometrie. Wiederum ist Psychodrama eine wichtige Quelle der Sprachpsychodramaturgie (PDL), einer Methode für den Sprachunterricht, die von Bernard Dufeu entwickelt wurde.

 

Die Lernportfolios, die ich Ende des Semesters vor meinen Augen habe (ich kann nicht sagen „in der Hand halte“, denn sie wurden elektronisch übermittelt), bestätigen mir einmal mehr darin, dass die Prinzipien einer Pädagogik des Seins, die der PDL zugrunde liegen (Dufeu, 2003, S. 34-43), im Fremdsprachenunterricht einen neuen Zugang zur Sprache ermöglichen, der den Menschen in seiner Ganzheit anspricht und weitaus mehr erreicht, als die Vermittlung eines Wissens und die Entwicklung einer spezifischen Kompetenz.

 

Wie schön, dass ich auch innerhalb einer Bildungsinstitution so unterrichten und meine Studierenden bewerten darf! Wie schön für die Studierenden, dass sie sich selbst erzählen und dabei ihre sprachlichen Fähigkeiten unter Beweis stellen können! Welcher Stolz ist es für die Prüflinge, ein ganz individuelles, persönliches, 30seitiges Werk in einer Fremdsprache verfasst zu haben!

 

In vielen Prüfungsarbeiten finde ich ein ganz persönliches Feedback oder eine Danksagung. Sie sagen Danke, dass sie in jedem Unterricht etwas Neues und Unerwartetes erleben, dass sie Anerkennung als Individuen erfahren und auf ihrem eigenen Weg zur deutschen Sprache von mir begleitet werden. Eine Studentin schreibt in ihrem Portfolio: „Diese Art des Unterrichts hat mir das Vertrauen gegeben, laut Deutsch zu sprechen“. Damit ist alles gesagt. Ziel erreicht. Mein Herz geht auf. Denn was ist der Sinn und Zweck von Sprachunterricht, wenn nicht die Lernenden zu befähigen, in der Fremdsprache zu sein?

 

Ich bin so froh, diesen Weg mit den Studierenden gehen zu können, und diesen in ihren Prüfungsarbeiten widerspiegelt zu sehen. Das Lernportfolio als Leistungsnachweis passt  perfekt zum Lernkonzept der PDL. Es folgt dem Prinzip „Folgen, statt vorauszugehen“, respektiert den Ausdruckswunsch der Lernenden und fördert außerdem Zusammenarbeit statt Konkurrenz (nach dem Prinzip „Jeder lernt von jedem“). Jede Person wird als einzigartige Persönlichkeit gesehen und anerkannt. Und es ist da, wo der Mensch sich selbst sein kann, dass Potentiale zur Geltung kommen und großes bewirken.

 

LITERATUR

Dufeu, B. Wege zu einer Pädagogik des Seins, Mainz, 2003

Gebhard, C. Das Lernportfolio als Leistungsnachweis im Chinesischunterricht, Forum Chinesischunterricht CHUN NR. 35/2020, S. 86-102

Kommentar schreiben

Kommentare: 0