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Umgang mit Krisen: Von der Vision zur Bestandsaufnahme

Die Fragen sind es, aus denen das, was bleibt, entsteht: Denkt an die Frage jenes Kindes: Was macht der Wind, wenn er nicht weht?

Erich Kästner

Umgang mit Krisen: Von der Vision zur Bestandsaufnahme

Das muss man der Pandemie schon lassen: Noch nie mussten sich Menschen, Organisationen, ja die ganze Gesellschaft gleichzeitig so intensiv mit neuen Situationen, mit Unsicherheit und Angst auseinandersetzen wie in den vergangenen Monaten. Und es wird noch weitergehen, die Zeit der Bewältigung steht zum Großteil noch vor uns.

Was mittlerweile für ziemlich jeden Bereich klar sein sollte: Die künftige Normalität wird nicht eine Rückkehr zu den alten Strukturen und Verhaltensmuster sein können. Dafür ist die Wandlung, die im Gange ist, zu groß und auch notwendig.

Aber wie können wir uns das "Neue" vorstellen? Welche Veränderungen sollen wir angehen? In welche Richtung soll es gehen? Welche Ressourcen werden wir brauchen? Was soll aus der Vergangenheit mitgenommen werden? Was wird uns Halt geben?

Diese und einige andere Fragen stellen sich im gleichen Maße dem Einzelnen wie der Gesellschaft selbst. Ein Individuum beschäftigt sich vielleicht mit der Frage, wie viel Homeoffice in seinem Leben bleiben wird (oder sollte), ein anderer muss sich neu erfinden und nach einer neuen Arbeitsstelle suchen. Unternehmen und andere Organisationen fragen sich, wie sich ihr künftiger Erfolg definieren wird, wie Digitalisierung und neue Arbeitsformen sinnvoll integriert werden, wie Mitarbeiterführung sich verändern soll, um neuen Erwartungen und Umständen gerecht zu werden. Oder vielleicht fragen sie sich sogar, wie sie weiter existieren können. Institutionen wie die Schule fragen sich, welche Art von Lernen notwendig ist um Kinder und Jugendliche zu befähigen, in unserer immer komplexeren Welt zurecht zu kommen und sie sogar zu verändern. Die Gesellschaft steht vor Widersprüchen wie der Vereinbarkeit von wirtschaftlichem Wachstum und Klimaschutz, Individualismus und Solidarität, Interessen der Einzelnen und der Gemeinschaft.

Die Fragen selbst sind nicht alle neu, ihr Ausmaß und ihre Dringlichkeit aber schon. Und für die meisten Fragen können wir uns nicht auf bewährte Lösungen und Antworten verlassen. Die Antworten dazu gibt es schlicht und ergreifend noch nicht, und wenn es sie geben wird, werden es keine allgemeingültigen sein, sondern individuelle Wege, die es einzuschlagen gilt.

Doch sind wir es nicht ganz anders gewöhnt? Ist unser Blick nicht im privaten wie im beruflichen Umfeld stets nach vorne gerichtet? Sind wir nicht mit dem Satz "Stillstand ist Rückstand" groß geworden? Wer hat nicht in einem Vorstellungsgespräch die Frage gestellt bekommen: "Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?" - meine ganz spontane Antwort auf die Frage wäre jetzt: "Keine Ahnung! Ich bin schon froh, wenn ich den nächsten Tag halbwegs gut überstehe!" -.

Für Menschen wie Organisationen liegt der Fokus auf dem Ziel, nicht auf dem Weg. Es werden Visionen entwickelt, daraus entstehen Missionen und dann Planungen und aus den Planungen und Maßnahmen entstehen Erwartungen, die regelmäßig überprüft werden und nur wenn ihnen entsprochen wird sprechen wir von Erfolg.

Mit einer solchen Einstellung wird die aktuelle Krise (und, ich wage zu sagen, auch künftige und andere Krisen) nicht zu bewältigen sein. Den Blick nach vorne zu richten, ohne uns mit dem Jetzt auseinanderzusetzen, dürfte uns schwer fallen,  Planung geht oft nicht weiter als ein paar Wochen, alles andere ist nur Spekulation. 

Ich denke, dass der Weg zur Bewältigung durch das Innehalten und die Auseinandersetzung mit dem Jetzt führt, für die Einzelnen wie für die Gesellschaft. Aus der Situation der letzten Monaten ist so viel Neues entstanden, Hürden wie Chancen. Aus dem vermeintlichen Stillstand ist so viel erwachsen, was nach der Krise nicht weg sein wird und uns nicht nur Schwierigkeiten bereiten, sondern auch bereichern wird.

Nehmen wir uns die Zeit, uns umzuschauen und auch zu spüren, was uns im Weg steht und was sich gut anfühlt. Was im Einklang mit unseren Werten ist und was in Widerspruch dazu steht. Wenn es keine Antworten gibt, sollten wir uns gemeinsam Fragen stellen. Nur daraus können neue Lösungen entstehen. Dieser Prozess ist nicht von Schnelligkeit, nicht von "höher, schneller, mehr" geprägt, sondern verlangt von uns die Gelassenheit, auch mal stehen zu bleiben und zu beobachten, um vielleicht etwas zu entdecken, was wir so noch nicht gesehen hatten aber doch die Antworten auf unsere Fragen birgt. Schalten wir doch, für uns selber wie in der Gemeinschaft, auf einen neuen Modus um. Gönnen wir uns die Zeit, einfach "geschehen zu lassen" und zu beobachten. Denn aus dieser Zeit werden wir die Kraft schöpfen um die Zukunft zu gestalten. Fragen wir uns mal, was der Wind macht, wenn er nicht weht....

 

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