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New Normal? Bitte erst ab September!

Mit den ersten Lockerungen des Lockdowns im Mai wurden überall Fragen nach dem "Leben danach" laut: Wie kehren wir zum Alltag zurück? Welche Maßnahmen werden zum Schutz vor dem Virus notwendig sein? Wie wird sich unser Zusammensein verändern? Wie wird Schule aussehen? Wie werden wir die Wirtschaft wieder ankurbeln? Wie viel Homeoffice wird bleiben? Sind wir durch die Pandemie bessere Menschen geworden? Wie gehen wir mit der allgemeinen Unsicherheit um?

Viele Fragezeichen, die an verschiedenen Stellen den Diskurs der folgenden Wochen prägten. Es schien klar zu sein, dass unsere Routinen und Gewohnheiten sich verändern würden, ja dass unser gesellschaftliches System sich ändern müsste. Mit aller Ungewissheit und Schwere, war immer wieder auch Hoffnung zu spüren, eine Lust Dinge anders und besser zu machen, um die Chance, die diese Krise geboten hatte, nicht zu verpassen. Der Begriff "New Normal" wurde so allgegenwärtig, dass man es kaum noch ertragen konnte ohne ihn umzuschreiben. Das Bild, das mir über diese Zeit im Kopf schwebt, ist das einer Weltkugel, die in einer neuen Galaxie erwacht und langsam versucht sich wieder aufzurichten. Traurigkeit und Verzweiflung vermischt mit dem Mut neu anzufangen. Irgendwie ein poetisches Bild, eines, das die Weltgeschichte prägen und unsere Generation unverkennbar charakterisieren würde...

Und dann kam Juni, dann Juli und die Urlaubszeit. Die innereuropäischen Grenzen wurden aufgemacht, Reisen waren wieder erlaubt, und die Städte und Lokale füllten sich langsam wider mit Menschen und Leben. Anfänglich noch mit Vorsicht, Abstand und Masken. Bevor diese zum "Politikum" wurden, und die Rückkehr zur Normalität die Pandemie in Vergessenheit geraten ließ, nach dem Motto: "Wir tun so, als ob es diese Zeit nicht gegeben hätte, vielleicht gibt es ja das Virus auch nicht".

Einerseits die Demonstranten in Berlin und anderswo, andererseits die Politik und die offiziellen Stellen, die vor einer "zweiten Welle" warnen. Und dazwischen ein Vakuum, das uns verschluckt hat und für mich den Anschein eines "Old Normals" macht, statt dem vorausgesagten "New Normal". Als ob mit uns auch die Weltgeschichte Urlaub machen würde.

Ich kenne einige Firmen, die ihre Mitarbeiter ohne lange zu überlegen, bzw. ohne Wenn und Aber, ins Büro zurückbeordert haben. Das Homeoffice? Die Vorteile einer flexibleren Arbeitskultur? Der riesige Organisationsaufwand, um Smartworking mit dem Familienleben zu vereinbaren? Das war gestern. "Vielen Dank, dass Sie dabei waren". 

Das Homeschooling? Die Digitalisierung des Unterrichts mit ihren Chancen und Grenzen? Der Kraftaufwand von Kindern und Eltern, um ein Lernen von zu Hause möglich und sogar effektiv zu machen? Die Selbständigkeit, die unsere Kinder dadurch gewonnen haben? Das war mal. Die Schule wird nach den Sommerferien weitergehen, den verpassten Stoff wird man nachholen. Die Digitalisierung ist wieder ein Zukunftsprojekt.

Alles wurde auf "Pause" gesetzt. Die vermeintliche zweite Welle wird im Herbst kommen, wir verschieben Veränderung auf die nächste Notlage. Oder ist die zweite Welle doch schon da? Egal, wir haben ja die erste überlebt, diese wird uns auch nicht umbringen.

Bei aller Lust unbeschwerte Sommertage zu verbringen, zu verreisen, Menschen zu treffen und sich zu umarmen, verspüre ich zur Zeit auch Enttäuschung und ein wenig Angst. Enttäuschung, dass wir zwar predigen, dass Krisen als Chance genutzt werden sollten, aber oft dann doch das Altbewährte der Veränderung vorziehen, den leichten Weg und die einfachen Antworten uns lieber sind als die Auseinandersetzung mit Komplexität. Angst, dass diese außergewöhnliche Zeit umsonst war, dass wir diese Krise nicht als Warnung wahrgenommen haben und wir uns weiterhin so verhalten werden wie vor der Pandemie.

Vielleicht wird ab September die Frage nach der neuen Normalität wieder zum Thema, vielleicht werden wir von vorne anfangen und uns wieder die gleichen Fragen stellen, weil uns das Virus wieder einmal unvorbereitet getroffen hat.

Ich würde lieber die Zeit vor dem Herbst schon nutzen, weiterzudenken und nach neuen Wegen zu suchen, die Sommerluft und die Hängematte dazu nutzen, neue Kräfte für Veränderung zu sammeln.

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